Das Magazin für ganzheitliche Gesundheit

Sehnsucht Meer
Foto: © Swellness

Wasser
Sehnsucht Meer

Christian Grass
Autor und Kommunikationsexperte

Das Meer fasziniert uns. Ob am Strand, beim Wellenreiten oder Tauchen – wir lassen uns vom Meer stark in seinen Bann ziehen. Warum tut uns das Meer gut? Wieso kann es dabei helfen, Burnout zu therapieren? Worin liegt das Geheimnis des Meeres, das uns – auf einer Terrasse sitzend – nach tiefem Blau und anderen Schön­heiten Ausschau halten lässt?


Sonnenterrassen über dem Meer
Seit Jahren zieht es mich auf die großen Terrassen über dem Meer: nach Portofino, nach Morro Jable, St. Ives und hierher, nach Saint Malo in der Bretagne. Dann sitze ich auf einem Stuhl, schaue auf Wellen und Wasser und erforsche mit den Augen, wie sich das dunkelblau-grüne Meer am Horizont mit dem zarten, hellblauen Streifen des weiten Himmels vereint. Symphonie in Blau. Harmonie im Bildausschnitt. Weite. Ferne. Doch das Meer hat enorme Kraft und seine eigenen Gesetze. Was eröffnet sich wohl hinter dem flirrenden Horizont aus Meer, Himmel und Sonne? Und wo endet die Meerestiefe? «Veuillez-vous un autre jus de pamplemous, Monsieur?», werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Der Kellner auf dieser Hotelterrasse trägt eine bodenlange, weiße Schürze mit einem aufgestickten Emblem des Grand Hôtel des Thermes. Ich klappe mein Reisetagebuch zu und blicke ihn an: Ich sei so richtig glücklich, sage ich ihm in sein junges Gesicht und lächle: «Merci!» Er neigt den Kopf etwas nach rechts, nickt und geht einen Tisch weiter.

Schönheit und Meeresgenuss
Sie ist um Jahre jünger als ich. Ein Hotelgast. Ihre Handtasche hat die Farbe von Vanille. Ihr bronziertes, ovales Gesicht wird durch eine große, rechteckige Sonnenbrille mit breiten dunkelroten Bügeln in Szene gesetzt. Sie liest in «Le Figaro». Ihr Tisch und Stuhl stehen näher zur niedrigen Terrassenmauer als meiner. Ihr violettes Strandkleid aus Leinen berührt den Terrassenboden. Dann dreht sie den Stuhl Richtung Meer, legt ihre Füße auf die Mauer, winkelt ihre Beine an und wendet den Kopf Himmel und Sonne zu. Zwischen die Zehen ihres rechten Fußes klemmt sie die große Sonnenbrille. Dann lege ich Münzen auf die weiße Untertasse neben meinem Glas, erhebe mich und schleiche an der Meeresanbeterin vorbei. Ich nehme die Steintreppe am Ende des Gartens hinunter zur Grande Plage du Sillon. Quer hinüber gehe ich über den breiten Sandstrand bis ganz vor zum Meeressaum. Der Sand unter den Fußsohlen ist warm. Ich bin in Shorts und Shirt und wollte beides jetzt gern ablegen. Salz auf meinen Lippen. Ich koste das Meer auch mit den Füssen: Wellen laufen aus und umspülen die Knöchel. Ich schlendere Richtung Intra-Muros in Paramé. Einen Fuß vor den anderen, immer weiter, die Augen halb geschlossen, die Arme baumeln neben dem Körper. Ich bewege mich im Rhythmus der Wellen. Dieses Rauschen – dumpf, herb, wohlig! Ich bleibe eine Weile stehen und drehe mich im Kreis. Himmel und Wasser, der Atlantik und seine Strände, die ich beide liebe. Die Zeit steht still. Da ist nichts Bedrohliches mehr um mich herum. Da stehe ich, ein Erwachsener, der ein Kind geblieben ist, eingebettet in die vielleicht endlose Einheit aus Meer und Himmel.

Der Meeresexperte
Ich will ihn unbedingt fragen. Ich schreibe es mir kurz in mein Tagebuch als Erinnerung für die Zeit nach dem Urlaub. Den bekannten Meeresexperten Florian Schmid-Höhne werde ich fragen, warum es Menschen wie mich magnetisch ans Meer zieht? Er hat das Unternehmen Swellness gegründet, er therapiert seit 15 Jahren Burnout-Patienten am Meer. Er lebt an der Atlantikküste bei Aljezur in Portugal. Dorthin, an den Atlantik, lädt er auch die Gestressten, die Lebensunzufriedenen, die von Job und Karriere geplagten Menschen. Er hat ein Diplom in Psychologie. Er verbrachte schon als Kind fünf Jahre auf der Kanareninsel Teneriffa. Dorthin kehrte er auch im Psychologie-Studium für 2 Semester zurück. Von der Kraft des Atlantiks umgeben zu sein, das ganze Jahr über Frühlingstemperaturen zu fühlen, die Sonne auf der Haut und den Duft von Meeresgischt und bunten Blumen in der Nase – all das formte den Entschluss von Florian Schmid-Höhne, seine «Behandlungsräume von einer geschlossenen Praxis in die Natur ans Meer zu verlegen.»

Im Gespräch mit Florian Schmid-Höhne
«Warum, Herr Psychologe, tut meiner Seele das Meer, noch besser, der wilde Atlantik, so gut?», frage ich später Florian Schmid-Höhne am Telefon. Ein Grund dafür seien geopsychologische Faktoren des Meeres. Landschaften nehmen Einfluss auf unser Gemüt. Dies habe bereits der Psychologie-Professor Willy Hellpach Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt und formuliert. Die Weite des Meeres «bildet eine Gegenwelt zur täglichen Informationsflut, einen Kontrast zum Leben in den Städten», erklärt Florian Schmid-Höhne. Auch wirke die blaue Farbe des Meeres beruhigend auf die Psyche des Menschen. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts kam das Baden in Mode. Die gesundheitlichen Vorteile eines Aufenthalts am Meer wurden zu dieser Zeit entdeckt. «Das Meer macht mich glücklich», sagte einst der französische Schriftsteller Marcel Proust. Er schritt im Jahr 1901 und in Begleitung seines Spazierstocks mit verziertem Messingknauf sowie Flanellhut mit breiter Krempe auf dem Kopf die Meerespromenade von Cabourg entlang. Berühmte Kurorte am Meer, an den schönsten Plätzen Europas, entstanden damals, auch um die Melancholie der adeligen Großstadtmenschen zu behandeln. «Das Besondere am Meer ist, dass wir es mit allen Sinnen genießen können.» Der salzige Geruch liegt in der Nase, die Augen können in die Ferne schauen, wir spüren den Sand unter den Füssen, während eine Welle den Fuß mit Wasser umspült. «Das Meer ist die einzige Landschaft, die man sogar schmecken kann,» erzählt Schmid-Höhne. Warum Menschen sich von dem Rauschen der Wellen und blauer Ferne so angezogen fühlten, hänge aber nicht nur mit den Eigenschaften des Ozeans selbst zusammen. «Es soll beispielsweise eine Rolle spielen, dass wir im Mutterleib in einer ähnlichen Salzlösung entstehen und dort vergleichbare Geräusche wie das Meeresrauschen hören. Außerdem brechen die Wellen in einem regelmäßigen Rhythmus, was wir vom Herzschlag der Mutter kennen. Das alles kann ein Gefühl großer Geborgenheit auslösen,» erklärt mir der Stressverhaltenstrainer Schmid-Höhne.

Genesen durch Stille
Und dann berichtet er mir noch von der jungen Frau, die in Schmid-Höhnes Casa Povo in einer einsamen Bucht am Atlantik untergebracht war. Ein altes Steinhaus mit Ofen und Kuschelbett – jedoch ganz ohne Handyempfang. Sie war gekommen, um hier zu sich zu kommen, heil zu werden. Niemand konnte sie digital erreichen. Sie war allein. Sie hörte die Stille. Nur das Rauschen des Meeres drang bis an die Türe der Casa. «Am Tag sah ich aufs Meer und nachts in den Ofen, mehr brauchte ich nicht», erklärte sie später voller wiedergewonnener Lebensfreude. Und ich denke an die Dame auf der Terrasse des Grand Hôtel des Thermes zurück: Wie sie die Füße, vielleicht ihre Sorgen, ihr ganzes Leben auf dieser Terrassenmauer ablegte und ausbreitete, um sich von der Sonne bescheinen zu lassen und auf das Meer zu schauen. Da spürte sie vielleicht, dass sie wirklich lebte.

 

 

 

 

Weiterlesen ...

Lesen Sie alle vollständigen Artikel in
der Printausgabe des Magazins Leben & Gesundheit.